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Leben & Gedichte
Genre: Lyrik
Seiten: 228
ISBN: 978-3-944566-08-5
Bemerkung
Rose Ausländer
Alles kann Motiv sein
Warum ich schreibe?
Weil Wörter mir diktieren: schreib uns. Sie wollen verbunden sein, Verbündete. Wort mit Wort mit Wort. Eine Wortphalanx für, die andere gegen mich. Ins Papierfeld einrücken wollen sie, da soll der Kampf ausgefochten werden. Ich verhalte mich oft skeptisch, will mich ihrer Diktatur nicht unterwerfen, werfe sie in den Wind. Sind sie stärker als er, kommen sie zu mir zurück, rütteln und quälen mich, bis ich nachgebe. So, jetzt laßt mich in Frieden. Aber Wörter sind keine fügsamen Figuren, mit denen man nach Belieben verfahren kann. Ich hätte sie mißverstanden, behaupten sie, sie hätten es anders gemeint. Sie seien nicht auf der richtigen Stelle untergebracht, murren sie. Scheinheilige, die friedfertig und unbewegt auf der weißen Fläche stehen. Das ist Täuschung. Hart sind sie, auch die zartesten. Wir sehen uns an, wir lieben uns. Meine Bäume, meine Sterne, meine Brüder: in diesem Stil rede ich zu ihnen. Sie drehen den Stil um, greifen mich an, zwingen mich, sie hin- und herzuschieben, bis sie glauben, den ihnen gebührenden Platz eingenommen zu haben. Warum schreibe ich? Weil ich, meine Identität suchend, mit mir deutlicher spreche auf dem wortlosen Bogen. Er spannt mich. Ich bin gespannt auf die Wörter, die zu mir kommen wollen. Ich rede mit ihnen zu mir, zu dir, rede dir zu, mich anzuhören. Die Welt stellt mir hinterlistige Fragen. Meine Wörter antworten ihr offenherzig mit Fragen. Geheimschriftlich blättert sich mein Leben ab, Blatt für Blatt: Jahre, die sich Verse auf das undurchdringliche Woher- Wohin? machen. Ich lege Rechenschaft ab, über mich, meine Umgebung, Zustände, Zusammenhänge. Meine Wörter wollen gebucht werden: Soll und Haben. Du sollst uns haben, sagen sie, wenn du uns ins Buch einträgst. Ich sträube mich. Ich denke viele Gedichte und Geschichten, schreibe nur einen kleinen Bruchteil davon. Warum? Weil, Erklärungen sind nur ein kleiner Bruchteil der Wahrheit.
Warum schreibe ich? Vielleicht weil ich in Czernowitz zur Welt kam. weil die Welt in Czernowitz zu mir kam. Jene besondere Landschaft. Die besonderen Menschen. Märchen und Mythen lagen in der Luft, man atmete sie ein. Das viersprachige Czernowitz war eine musische Stadt, die viele Künstler, Dichter, Kunst-, Literatur- und Philoso-phieliebhaber beherbergte. Sie war die Wahlstadt des großartigen jiddischen Fabeldichters Elieser Steinbarg. Sie hat den bedeutendsten jiddischen Lyriker Itzig Manger und zwei Generationen deutschsprachiger Dichter hervorgebracht. Der jüngste und wichtigste war Paul Celan, der älteste Alfred Margul-Sperber, der 1968, neunundsechzigjährig, in Bukarest starb, ein in Rumänien und in der DDR hochangesehener Lyriker und Übersetzer. Er war mein Entdecker und stellte meinen ersten Lyrikband zusammen, der unter dem Titel Der Regenbogen 1939 in Czernowitz erschien. Mein frühes Interesse galt der Philosophie. Die Wahlphilosophen Benedikt Spinoza (der sich seinen Lebensunterhalt als Brillenschleifer verdiente) und der große Berliner Denker Constantin Brunner haben meinem Denken ein Fundament gegeben. Eines meiner damaligen Gedichte begann: „ Mein Heiliger heißt Benedikt./ Er hat das Welt-
all / klargeschliffen.“ Die später entstandenen Essays über Spinoza, Brunner, Platon (Phaidros) und Freud (Angst), meine Lyrikmanuskripte, Tagebücher , Briefe sowie die
Gesamtauflage des Regenbogen sind dem Krieg zum Opfer gefallen.
Mit siebzehn Jahren fing ich an, Notizen, Einfälle, Verse in ein Tagebuch einzutragen. Bald stand es für mich fest, daß Lyrik mein Lebenselement war. Jahrelang schrieb ich Gedichte, lyrische Prosa, rhythmische Texte, auch ein paar Märchen. Manches vertraute ich der Schublade an, den Rest schenkte ich dem Papierkorb. Viele Dichter und Schriftsteller waren mir wichtig, aber von Hölderlin und Kafka gingen die nachhaltigsten Impulse aus. Es folgte eine Phase verschiedenartiger Versuche in freien und gebundenen Versen, viele gereimt. Unser Sprachmeister Karl Kraus rühmte den Reim: „Er ist das Ufer, wo sie landen, / sind zwei Gedanken einverstanden.“ Auch das Adjektiv spielte noch eine vitale Rolle. Was später über uns hereinbrach, war ungereimt, so alpdruckhaft beklemmend, daß – erst in der Nachwirkung, im nachträglich voll erlittenen Schock- der Reim in die Brüche ging. Blumenworte welkten. Auch viele Eigenschaftswörter waren fragwürdig geworden in einer mechanisierten Welt, die dem „ Mann ohne Eigenschaf-
ten “, dem entpersönlichten Menschen gehörte. Das alte Vokabular mußte ausgewechselt werden. Die Sterne- ich konnte sie auch aus meiner Nachkriegslyrik nicht entfernen- erschienen in anderer Konstellation.
Czernowitz 1941. Nazis besetzten die Stadt, blieben bis zum Frühjahr 1944. Getto, Elend, Horror, Todestransporte. In jenen Jahren trafen wir Freunde uns zuweilen heimlich, oft unter Lebensgefahr, um Gedichte zu lesen. Der unerträglichen Realität gegenüber gab es zwei Verhaltenweisen: entweder man gab sich der Verzweiflung preis, oder man übersiedelte in eine andere Wirklichkeit, die geistige. Wir zum Tode verurteilten Juden waren unsagbar trostbedürftig. Und während wir den Tod erwarteten, wohnten manche von uns in Traumworten – unser traumatisches Heim in der Heimatlosigkeit. Schreiben war Leben. Überleben.
„...Auf den flüchtenden Kähnen / löschen die Wimpel den Traum, von den Himmeln...“ –„ ...daß die unsichtbaren Gestirne aufblühen.“ Diese und viele andere Verse las mir ein junger Mann vor, den 1944 ein Freund zu mir brachte: Paul Antschel -Celan. Als Revanche las ich das nächste Mal meine neuentstandenen Gedichte, die er sehr lobte.
Ende 1946. Einwanderung in die USA. Existenzkampf. Umorientierung. Provokation. Die neue Welt der modernen amerikanischen und englischen Literatur war ein frischer erregender Antrieb. Nach mehrjährigem Schweigen überraschte ich mich eines Abends beim Schreiben englischer Lyrik. Einer meiner ersten Englischtexte fing an: „Looking for a final start“ (Ich suche einen endgültigen Beginn). Viele jener Gedichte sind in amerikanischen Literaturzeitschriften erschienen, manche hat der Rundfunk WEVD gesendet. Warum schreibe ich seit 1956 wieder deutsch? Mysteriös, wie sie erschienen war, verschwand die englische Muse. Kein äußerer Anlaß bewirkte die Rückkehr zur Muttersprache. Geheimnis des Unterbewußtseins. Erst 1957 machte ich Bekanntschaft mit der deutschen Gegenwartslyrik. Verwandelt tauchte die versunkene Welt wieder empor: in ein anderes Licht. Veraltete Formen waren in den Schatten getreten. Viele dieser modernen deutschen Gedichte wurden für mich von bleibender Bedeutung.
1957. Zwei Wochen in Paris. Paul Celan lud mich mehrere Male zu sich ein, las mir viel Neuentstandenes vor, Gedichte, die später im Sprachgitter erschienen sind. Er fragte nach meinen neuen Arbeiten. Zögernd zeigte ich ihm sechs Texte. Er reagierte sofort nach dem Lesen: „Das unhörbare Herz, Atlantis, Ruf und Kristall und Eingeschneit sind sehr, sehr, sehr schön. Auch Blinder Sommer ist ein gutes Gedicht.“ Das sechste gab er mir wortlos zurück. Kurz danach las ich Mohn und Gedächtnis und Von Schwelle zu Schwelle: ein neues Modell poetischer Evokation. Celans sprachschöpferischer Existentialismus war überzeugend. Der Tod hatte seinen besten Dichter ins Leben gerufen.
Meine bevorzugten Themen? Alles- das eine und das Einzelne. Komisches, Zeitkritik, Landschaften, Sachen, Menschen, Stimmungen, Sprache- alles kann Motiv sein. Im Sinne gesellschaftlicher Zusammengehörigkeit ist meine Lyrik engagiert. Aus der Eigenart und Intensität einer Erfahrung, eines Einfalls, ergibt sich die äußere und innere Form des Textes. Oft habe ich mich gefragt, was dieses Schreiben eigentlich sei, und habe mir verschiedene Antworten gegeben. Bei der kürzesten bin ich geblieben: Schreiben ist ein Trieb. Der Dichter, der Schriftsteller muß essen, sich bewegen, ruhen, denken, fühlen und schreiben - schreiben, was seine Gedanken und Einbildungskraft ihm vorschreiben.
Warum ich schreibe? Ich weiß nicht.
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Freitag, 15.11.2024 - Freitag, 15.11.2024
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